Von der Bauhütte zu BIM: Was das Mittelalter mit digitalem Bauen zu tun hat

Beim Bau gotischer Kathedralen arbeiteten Planer, Handwerker und Pfarrer am gleichen Ort zusammen. Gebaut wird heute natürlich anders – doch das Prinzip der Zusammenarbeit ist bei der digitalen Projektabwicklung ähnlich.

Wer eine Kathedrale wie das Basler Münster betritt, fragt sich, wie es möglich war, im Mittelalter den Grundstein für ein solch grossartiges und beständiges Bauwerk zu legen. Wie waren Menschen im 11. Jahrhundert fähig, ohne Maschinen und ohne CAD-Pläne oder digitale Bauwerksmodelle, solche Bauten zu erstellen?

Eine der Grundvoraussetzungen des mittelalterlichen Sakralbaus waren die Bauhütten. So heisst es auf der Homepage des Basler Münsters: «Die Bauhütte der Gotik war eine Organisation im Sinne eines Werkstattverbandes aller an einem Kirchenbau vor Ort tätigen Handwerker.»

Maurer, Mönche, Bäcker – alle arbeiteten an einem Ort

Zur Hütte gehörten aber nicht nur der Werkmeister und die verschiedenen Handwerker¹ wie der Steinmetz, die Zimmerleute, Maurer, Schmiede und Glaser. Unter der Leitung eines Dombaumeisters arbeiteten dort sogar der Sigrist, der Organist, aber auch Bäcker, Köche und Gesinde für den Haushalt zusammen. Ihr gemeinsames Ziel: Ein grosses Bauwerk zu erstellen.

«Die Bauhütte der Gotik war eine Organisation im Sinne eines Werkstattverbandes aller an einem Kirchenbau vor Ort tätigen Handwerker.»

Bauhütten waren also nicht nur Bau- sondern auch Lebensgemeinschaften. Der Ort, wo alle diese Menschen zusammenarbeiteten, war die Baustelle. Die Bauhütten bewahrten zudem Wissen und Pläne auf und kümmerten sich um den Fortbestand der Bauten. Ihre Aufzeichnungen helfen Fachpersonen noch heute bei Restaurierungen. Kein Wunder, wurde diese Organisationsform ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen.

Die Perspektive war das Ende der Bauhütte

Mit der Entdeckung der Perspektive durch den Architekten Filippo Brunelleschi sowie der Erfindung des massstäblichen Planes durch Leon Battista Alberti im 15. Jahrhundert änderte sich alles: Nicht nur die Wahrnehmung und Darstellung eines Baus, sondern auch die Zusammenarbeit auf der Baustelle. Fortan war es möglich, mit massstabsgetreuen Plänen zu arbeiten. Der Ort der Planung musste nicht mehr mit dem Ort der Realisation übereinstimmen. Der Bauherr gab den Auftrag, der Architekt zeichnete, der Ingenieur rechnete, die Handwerker führten ihre Arbeiten durch. Umfassende Renaissance-Bauten in Florenz, wie die Kuppel von Santa Maria del Fiore (1418-1436), die Kirche San Lorenzo (1418-1428) oder das Findelhaus (1421-1455) wurden so gebaut. Die klassische Organisationsform des Bauwesens – die der Bauhütte – wurde obsolet.

Unzählige Spezialisten, keine Integration

Die Fragmentierung von Planung und Ausführung auf dem Bau wurde durch immer mehr ad hoc zusammengesetzte und an der Anzahl zunehmende Spezialisten verstärkt. Dies führt bisweilen zu Problemen, die nicht selten in langen juristischen Streitereien enden und die oft Verzögerungen und Verteuerungen von Bauvorhaben zur Folge haben. Auch ursprünglich gemeinsam gesetzte Ziele eines Bauwerkes – zum Beispiel bezüglich Nachhaltigkeit oder Nutzung – können so in den Hintergrund treten.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Menschen meist lange auf eine Innovation warten müssen, um die Folgen einer anderen Innovation wieder auszubügeln. Auf dem Bau war es die Entwicklung von leistungsfähigen, digitalen Planungsinstrumenten, Computern und Programmen, die erneut eine Veränderung mit sich brachten und digitale Bauwerksmodelle und automatisierte Berechnungen erlaubten, aber zu keiner spürbaren Steigerung der Qualität und Produktivität führte.

Computerprogramm ist nicht gleich Zusammenarbeit

In den letzten Jahren ist in der Praxis die Erkenntnis gereift, dass ein Computerprogramm nicht alles besser macht und die Nutzung virtueller Modelle, bzw. digitaler Bauwerksmodelle, nur dann einen Mehrwert bringt, wenn sie in Kombination mit bewusst gestalteten Organisationen und Prozessen angewendet werden. Die integrierte Projektabwicklung (IPD), welche neue – oder alte? – Organisationsformen mit sich bringt, ist die wahre Innovation.

Gemeint ist damit die kontinuierliche und integrierte Zusammenarbeit von Auftraggebenden, Planenden und Ausführenden. Und damit einem Projektteam, das in einem gemeinsam genutzten Raum (Co-Location) zusammenarbeitet, gemeinsame Ziele im Blick behält und u interdisziplinär geführt wird: Die Grundidee der Bauhütte ist aktueller denn je.

Und wer sagt denn, dass auf der Baustelle der Zukunft nicht auch Musiker*innen, Köch*innen oder eben auch Psycholog*innen gefragt sind, die für einen rundum gelungenen Baufortschritt und das Wohl aller Beteiligten sorgen?


¹ Im Mittelalter – und auch noch lange Zeit danach – waren ausschliesslich Männer in diesen Disziplinen tätig. Deshalb verwenden wir in diesem Text bei Abschnitten zu dieser Epoche ausschliesslich die männliche Form, jedoch im Wissen, dass das heute zum Glück anders ist.